100 Jahre „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Die Frage der Moral in Georg Lukács’ Revolutionstheorie (Online)

Vortrag im Rahmen einer Buchvorstellung von „Subjekt und Befreiung“ mit Michael Heidemann & Andreas Stahl

Im März 1923 veröffentlichte Georg Lukács seine Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewusstsein, die rasch zu einem ebenso berühmten wie umstrittenen Klassiker des unorthodoxen, sogenannten westlichen Marxismus wurde. Als einer der ersten marxistischen Intellektuellen reagierte Lukács in einer geschichtsprägenden Zeit auf die „ideologische Krise“ der Arbeiterschaft, die sich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs wechselseitig massakrierte, anstatt die kapitalistischen Verhältnisse in Westeuropa umzustürzen. Die bloße Feststellung einer ideologischen Krise genügte bereits, um innerhalb des Parteikommunismus für Misstrauen gegenüber seiner Person bis hin zur offenen Ablehnung zu sorgen. Dabei wusste sich Lukács im entscheidenden Punkt mit der marxistischen Orthodoxie einig: Am historisch verbürgten revolutionären Subjekt Proletariat und dem Glauben an die kurz bevorstehende Revolution sei unbedingt festzuhalten. Das Bedürfnis nach theoretischer Absicherung dieser erschütterten Gewissheit kann sogar als der zentrale Beweggrund der gesamten theoretischen Anstrengungen von Geschichte und Klassenbewusstsein gelten.

Im Vortrag soll Lukács’ Beitrag zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft auf die intellektuell einzig angemessene Weise gewürdigt werden – durch rückhaltlose Kritik. Dessen in sich gebrochene Revolutionstheorie fragt zu Recht nach dem Subjekt der Befreiung, schließt sich allerdings zu einer hegelianisierenden geschichtsphilosophischen Konstruktion zusammen, vor der die Individuen als autonome, moralisch verantwortliche Akteure letztlich verschwinden. Anhand der Argumentation insbesondere des avanciertesten Aufsatzes – Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats – soll ein prinzipielles Problem sich materialistisch verstehender Erkenntniskritik aufgezeigt werden: Sie tendiert dazu, die Spontaneität menschlichen Denkens und Handelns im gesellschaftlichen Sein aufzulösen. Es sei seine spezifische Stellung im Produktionsprozess, die dem Proletariat ein Erkenntnisprivileg in Bezug auf die kapitalistische Totalität verschaffe. Als Theorie der Revolution bleibt auch die reflektierte Revolutionstheorie in sich aporetisch, weil sie den historischen Gang der menschlichen Befreiung als einen in sich notwendigen, gesetzmäßig verfassten Prozess vollständig darstellen muss. Was ihr damit abgeht, wäre allein durch den von Lukács selbst angestoßenen Rückgriff auf die Tradition der idealistischen Philosophie zu bestimmen: ein emphatischer Begriff menschlicher Freiheit.

Für die Diskussion könnte außerdem erwogen werden, inwieweit Lukács’ Revolutionstheorie Elemente dessen vorwegnimmt, was in postmoderner Theorie die bis zum Exzess getriebene „Situiertheit des Wissens“ und die damit einhergehende Relativierung von Wahrheit ausmacht. Was hat die dereinst marxistisch reklamierte „Stellung im Produktionsprozess“ mit der heutzutage postmodern in Anspruch genommenen „Diskriminierungserfahrung“ gemein, wenn es um die Erkenntnis von gesellschaflichen Zusammenhängen geht?

Michael Heidemann studierte Philosophie in Oldenburg, schreibt manchmal Aufsätze für die ideologiekritische Zeitschrift sans phrase und schätzt Tom Gerhardts Voll normaaal. Andreas Stahl ist Mitherausgeber des Bandes Subjekt und Befreiung. Beiträge zur kritischen Theorie 1 (Verbrecher Verlag, 2022), in dem der zugrundeliegende Text erschien.

Eine Veranstaltung im Rahmen der Ringvorlesung kritische Theorie der Gesellschaft für kritische Bildung in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Rheinland-Pfalz, dem Rosa Salon und dem Verbrecher Verlag.

Hier der Link zur Zoom-Veranstaltung: https://eu01web.zoom.us/j/63969307701?pwd=UGZkLzhTWGdPOFNTWVNUenNnenZ5dz09

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