Probleme der Bedürfniskritik des KTB (Kritische Theorie in Berlin).

Probleme der Bedürfniskritik des KTB (Kritische Theorie in Berlin). Arbeitsergebnisse der AG ‚Kritische Theorie der Gegenwart‘ der GfkB

Die arrivierte Kritische Theorie aus Frankfurt und Berlin bemüht sich seit einigen Jahren um eine Annäherung an soziale (Protest-)Bewegungen.[1] Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main sieht seine zukünftige Rolle gar als Plattform, wo sich Wissenschaft und Polit-Aktivismus treffen, um sich gegenseitig zu befruchten. Probleme scheint der Kritischen Theorie allerdings die Abgrenzung von reaktionären und fortschrittlichen Bewegungen zu machen. So z.B. jüngst Rahel Jaeggi: „Lange Zeit dachte man oder ich jedenfalls –, dass soziale Bewegungen an sich immer etwas Gutes seien. Jetzt sind wir damit konfrontiert, dass es gut mobilisierte Bewegungen gibt, die auf die Straße gehen und blockieren, aber mit ganz anderen Intentionen und Inhalten, als wir das tun würden.“[2] Angesichts postkolonialer, postmarxistischer, poststrukturalistischer, queer-feministischer usw. Theorien verbiete sich eine Bewertung sozialer und politischer Bewegungen aufgrund ihrer Ziele oder Werte. Eine inhaltliche Unterscheidung zwischen fortschrittlichen und rückwärtsgewandten Bewegungen im Speziellen bzw. progressivem und regressivem sozialen Wandel im Allgemeinen würde einen überlegenen epistemischen Standpunkt voraussetzen, der dem Vorwurf des Euro-, Logo- oder Androzentrismus, Paternalismus, Autoritarismus, Naturalismus, Essentialismus usw. ausgesetzt wäre.[3]

Einen Ausweg aus diesem ‚Dilemma‘ meint das KTB offenbar im Formalismus gefunden zu haben. Die anmaßende und ungerechtfertigte Stellung eines privilegierten Erkenntnissubjekts, das zwischen fort- und rückschrittlichen, wahren und falschen, guten und schlechten usw. Inhalten zu unterscheiden vermag, solle fortan durch radikaldemokratische, integrative und reflexive Verfahren der Deliberation ersetzt werden. Anstelle universalistischer Ansprüche, die nur eine mehr oder weniger geschickte Strategie zur Durchsetzung von (männlichen, weißen, europäischen usw.) Partikularinteressen darstellen, müssten fortan formale Kriterien der Prozessualität treten. In Bezug auf soziale Bewegung und politische Organisation bedeute dies, dass Fortschritt und Regression, so Jaeggi, sich auch danach bemessen lassen müssen, „wie die Mobilisierung funktioniert und wie hier gesellschaftlich Konflikte bearbeitet oder eben gerade nicht bearbeitet, sondern verschoben werden.“[4] Kurzum: Die inhaltliche Frage nach dem ‚Was‘ müsse durch die formelle Frage nach dem ‚Wie‘ ersetzt (oder doch zumindest ergänzt) werden.[5] Für die Einschätzung sozialer Bewegungen bedeutet dies: weniger der konkrete Gehalt von Aktionen, Beschlüssen oder Strategien als vielmehr der Weg ihres Zustandekommens macht den Unterschied zwischen regressiven und progressiven Bewegungen oder „Gegengemeinschaften“[6] aus. Solange die am Dauerplenum Beteiligten sich zugleich als Autoren und Adressaten ihrer eigenen Beschlüsse anerkennen, so die implizite Annahme, wird der Inhalt der Beschlüsse schon in Ordnung gehen – denn wer beschließt schon etwas, das ihm oder ihr schadet?

Der Wechsel von einer substanziellen zu einer prozessuralen Bestimmung von sozialem Fortschritt und politischem Aktivismus löst das Problem der Begründungsbedürftigkeit des eigenen (normativen) Standpunktes freilich nicht. Denn schließlich lassen sich all die Einwände (Eurozentrismus usw.), die gegen diese oder jene Position formuliert werden können, auch ebenso gut gegen die formalen Kriterien vermeintlich überlegener Verfahren anbringen. Warum eine bestimmte „Verlaufsform sozialen Wandels“[7] (Jaeggi) besser als eine andere oder die „realen sittlichen Praktiken von Gegengemeinschaften“[8] (Loick) anderen Organisationformen und -praktiken überlegen sein soll, lässt sich nur unter Rückgriff auf inhaltlich gehaltvolle normative Prinzipien begründen, die ihrerseits begründungspflichtig sind.[9]

Ungeachtet des Selbstwiderspruchs, dem Vorwurf des Essentialismus durch einen nicht minder begründungsbedürftigen Formalismus entgehen zu wollen, steht der formalistische Ansatz Pate bei der Beschäftigung des KTB mit Bedürfnissen: Progressive (‚radikale‘) Bedürfnisse entstehen aus einem Prozess politischer Kontestation; reaktionäre, weil systemstabilisierende Bedürfnisse, sind Ergebnis einer unreflektierten Naturalisierung.

Im Rahmen der GfkB-Arbeitsgruppe ‚Kritische Theorie der Gegenwart‘ haben wir uns die Thesen des KTB genauer angeschaut. Einige Ergebnisse der Diskussionen sind in den folgenden Texten festgehalten.

1. Julian Kuppe – Wie die Milch ins Glas kommt

2. Thomas Land: Wag the dog. Radikaldemokratische Bedürfnisformation statt Kapitalismuskritik in den ‚11 Theses on Needs‘ des KTB

3. Jan Rickermann




[1] „Fluchtpunkt unseres Erkenntnisinteresses sind die Gegentendenzen und Gegenbewegungen zum krisenhaft Funktionierenden der kapitalistischen Spätmoderne.“ Institut für Sozialforschung: „100 Jahre IfS | Perspektiven. IfS Working Paper Nr. 20.“ (2023), https://www.ifs.uni-frankfurt.de/forschung.html?file=files/Content/Publikationen/IfS%20Working%20Papers/20_IfS%20Working%20Paper_Perspektivenpapier.pdf&cid=2448. Stephan Lessenich möchte am IfS dezidiert ‚öffentliche Sozialwissenschaft‘ betreiben, was bedeutet, auch „mit außerakademischen Publika in einen Dialog zu treten, der wechselseitig aufklärerisch wirkt.“ Lessenich, Stephan: Petite Auberge Aufbruch. Zu den Möglichkeitsräumen kritischer Sozialforschung heute, in: Soziologie – Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 51/2 (2022), S. 115–126, S. 122. Weiter heißt es dort: „Kritische Gesellschaftstheorie und Sozialforschung heute muss […] zur systematischen Arbeit an der Destabilisierung der Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen akademischer und nicht-akademischer Welt, angehalten werden. Sie muss, in einer bewussten Doppelbewegung, dazu bereit sein, mit der eigenen Gesellschaftskritik in der Öffentlichkeit hausieren zu gehen und sich die Gesellschaftskritik der Leute […] ins Haus zu holen.“ Ebd., S. 123. Siehe in diesem Zusammenhang auch Hebauf, Hendrik: Das Schweigen der Kritik, Das Institut für Sozialforschung und der 7. Oktober, in: diskus 11.12.2023, https://diskus.copyriot.com/news/schweigen-kritik#footnoteref2_yxkgk2q und Thunder in Paradise: Die schöne neue Welt der Postnormalität. Einleitungstext zu unserer gleichnamigen Konferenz, die am 3. Juni 2023 in Frankfurt a.M. stattfindet, 2. Mai 2023, https://thunderinparadise.org/2023/05/02/die-schone-neue-welt-der-postnormalitat/.

[2] Struwe, Alex und Rahel Jaeggi: Rahel Jaeggi, Philosophin, im Gespräch über ihr Buch »Fortschritt und Regression«. »Ich habe eine gewisse Vorliebe für Begriffe, die weg vom Fenster sind«, in: Jungle World 09/2024 (29.02.2024), https://jungle.world/artikel/2024/09/rahel-jaeggi-fortschritt-und-regression-ich-habe-eine-gewisse-vorliebe-fuer-begriffe-die-weg-vom-fenster-sind.

[3] Siehe zum Thema allgemein das Kapitel „Postkoloniale Theorie als angewandter Postmodernismus“ in: Elbe, Ingo: Antisemitismus und postkoloniale Theorie: Der »progressive« Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung, Berlin 2024, S. 270-312.

[4] Struwe/Jaeggi: Rahel Jaeggi, Philosophin, im Gespräch über ihr Buch »Fortschritt und Regression«.

[5] „Das Interessante an Begriffen wie Fortschritt und Regression ist gerade, dass sie einen Wandel gleichzeitig beschreiben und bewerten. Und als Kriterium für diese Bewertung schlage ich vor, Fortschritt als einen sich anreichernden Lern- und Erfahrungsprozess zu verstehen. Fortschritt bemisst sich eben nicht nur an einem spezifischen Inhalt, dem »Was«, sondern am »Wie« dieses Lern- und Erfahrungsprozesses, eben daran, ob dieser als eine bestimmte Form von Anreicherung beschrieben werden kann.“ Ebd. An anderer Stelle heißt es im Interview dazu: „Und ich sage: Nein, man kann Fortschritt nur prozessual bestimmen, und zwar als einen Lernprozess, in dem Krisen durchlebt, Erfahrungen gesammelt und reflektiert werden, so dass Ressourcen zur Bewältigung der Krise angereichert werden.“

[6] Zur Behauptung einer überlegenen Sittlichkeit von Gegengemeinschaften aufgrund ihrer spezifischen Praxis siehe auch Loick, Daniel: Die Überlegenheit der Unterlegenen: Eine Theorie der Gegengemeinschaften, Berlin 2024.

[7] Jaeggi, Rahel: Fortschritt und Regression, Berlin 2023, S. 171. Das vollständige Zitat lautet: „Fortschritt lässt sich zwar nicht substanziell, wohl aber prozedural bestimmen, als Verlaufsform sozialen Wandels, die damit selbst normative Bedeutung erhält.“

[8] Loick: Die Überlegenheit der Unterlegenen, S. 48.

[9] Dass Jaeggi dem Problem normativer Begründung mit ihrem prozessualen Fortschrittsbegriff nicht entkommt, haben bereits mehrere Rezensionen festgehalten. Hier lediglich: „Ist der Versuch, den Fortschritt seiner Substanz zu entleeren, aber den Begriff beizubehalten, vielleicht ein Fall von ‚Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass‘?“ Wagner, Peter: „Auf der Suche nach dem verlorenen Fortschritt: Rezension zu ‚Fortschritt und Regression‘ von Rahel Jaeggi“, in: Soziopolis: Gesellschaft beobachten (2024), https://www.soziopolis.de/auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-fortschritt.html.